Mittwoch, 6. April 2011

Der Verdacht, es könnte noch Abweichler geben, bringt gerade 99-Prozent-Mehrheiten in Rage







Es beruhigt den Mitmacher nicht, wenn er eine 99-Prozent-Mehrheit hat. Erst wenn der letzte Zweifler gestellt ist, ist auch der eigene Zweifel überwunden, der sich manchmal noch aus dem Unterbewußtsein meldet.

"Die jubelnden Fußballfans mit auf die Stirn gemalten Deutschlandfarben scheren sich nicht um alberne Patriotismusdebatten. Da ist das gemeine Volk wohl schon weiter als sämtliche Mahner zusammmen. Wenn es allerdings durch die Weltmeisterschaft gelänge, auch verdruckste Funktionäre von der Lehrergewerkschaft in diese Gesellschaft zu integrieren, wäre das schon ein bemerkenswerter Erfolg". (FAZ 17. Juni 2006)

"Die Deutschen haben es allen Nörgelern und Bedenkenträgern kräftig gezeigt. Deutschland muß nach der WM endlich zur No-Go-Area werden. Für all die Miesmacher, die alles besser wissen ..." (Bild, 5. Juli 2006)

"Sollen doch die knurrigen Besserwisser allein zu Haus vor dem Fernseher hocken, um kritisch zu analysieren und ihre apodiktische Meinung unter die Leute zu bringen - atmosphärisch bestimmen jene den Festverlauf, die gönnen können." (FAZ, 10.6.2006)

Hohn und Spott für jene, die sich bedroht fühlen, dominieren die Kommentare von Taz bis Faz. Der aggressive Ton soll zugleich davon ablenken, dass die "Miesmacher", gegen die ständig mobilisiert wird, angesichts der gelungenen Gleichschaltung und Selbstgleichschaltung öffentlich praktisch nicht sichtbar sind. Man muss sich daher Feinde erfinden, um den eigenen Konformismus unsichtbar zu machen. Zugleich beginnt der Konformist nach den Abweichlern zu fahnden: "Irgendwo müssen sie sich doch versteckt halten!" Es beruhigt den Mitmacher nicht, wenn er eine 99-Prozent-Mehrheit hat. Erst wenn der letzte Zweifler gestellt ist, ist auch der eigene Zweifel überwunden, der sich manchmal noch aus dem Unterbewußtsein meldet.


Nach der Niederlage:

Jetzt ist der Frust zu Gast in Deutschland: Die Fanmeilen sind seither verwaist. Schon unmittelbar nach der Niederlage gegen Italien verschwinden die Jubeldeutschen sofort von der Bildfläche - schweigend und einzeln geht´s nach Haus. Denn ohne deutschen Sieg gibt es nichts zu feiern, weil der Sport für die meisten nur eine gute Gelegenheit für etwas ganz anderes war. Massive Polizeipräsenz und monatelanger öffentlicher Benimm-Unterricht (Deutschland muss einen guten Eindruck machen) sorgen jedoch dafür, dass der losgelassene nationale Fanatismus auch nach einer Niederlage unter Kontrolle bleibt.

Nationalismus soll kein Nährboden für "Rechtsgesinnte" werden. Der etwas verunglückte Satz des oben zitierten Wolfsburger SPD-Politikers ist durchaus paradigmatisch: Die Verantwortlichen sind sich bewusst, dass sie die von ihnen gewollte und beförderte "Ich bin Stolz ein Deutscher zu sein"- Massenbewegung zu jeder Zeit ideologisch und polizeilich kontrollieren und lenken können müssen, damit der "neue deutsche Patriotismus" im "Ausland" nicht durch "Zwischenfälle" doch noch eine schlechte Presse bekommt. Die Nationalisten anderer Länder sollen beim Blick auf Deutschland nur sich selbst erkennen. Denn anderswo weiß man ja seit jeher, wie man mit Fähnchen, Nationalperücken und Autokorso einen "unverkrampften Nationalismus" in Szene setzt. Je näher man sich da also anlehnt und je weiter das Jahr 1945 zurück liegt, desto weniger wird "denen" noch einfallen, was sie dagegen haben könnten, wenn es jetzt in Deutschland auch so zu geht.

Das Design dieser WM-Kampagne ist auf die Blamage der ausländischen (und wenigen inländischen) Deutschlandkritiker angelegt. In den Medien - der "Stern" hat eine Titelgeschichte dazu gemacht - werden Stimmen aus aller Welt zitiert, die sich positiv über Deutschland äußern. Besonders beliebt sind britischen Kommentatoren, die sich für 60 Jahre antideutsche Vorurteile entschuldigen. ("Sogar die englischen Blätter, normalerweise alles andere als deutschfreundlich, äußerten sich positiv über die Lebensfreude und die Unbefangenheit, mit der die Deutschen neuerdings ihre Nationalflagge schwingen“). Auch dem israelischen Botschafter (oder dem Zentralrat der Juden, was für viele keinen Unterschied ausmacht) hält man gerne das Mikro hin, damit auch von dieser Seite einmal gesagt wird, wie unverkrampft jetzt alles ist. Man gibt ihnen damit Gelegenheit, sich noch mehr Feinde zu machen und weiß natürlich, dass sie sich diesen Schuh nicht anziehen werden: So sagt dann auch Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch: "Ich teile die Begeisterung der Fans und freue mich, wenn ich überall in der Stadt Fahnen sehe. In München wehen übrigens nicht nur die deutschen Flaggen.“ Mehr Einwand würden sich die Deutschen auch nicht bieten lassen.

Obwohl die Ausschreitungen (die von der Polizei umgehend unter Kontrolle gebracht wurden) in der Summe durchaus beachtenswert sind, war die typische und vorherrschende Reaktion eine andere: Die Leute drehten sich praktisch auf dem Absatz um, gingen auf geradem Weg nach Hause und legten sich dort ins Bett! Man muss das gesehen und erlebt haben. Leute, die eben noch vor den Restaurants gemeinsam WM schauten, lachten und johlten, bezahlten blitzschnell und verschwanden ohne ein weiteres Wort in ihren Wohnungen. Niemand blieb noch auf ein Bier, niemand wollte über das Spiel reden. Sie waren wie vom Blitz getroffen, nachdem sie sich in die Überzeugung hineingegrölt hatten, dass "Deutschland über alles" zu gehen habe. Sie konnten gemeinsam "Deutschland!" schreien und sich mit wildfremden Wimpelträgern verbrüdern. Aber sie konnten sich nicht mehr in die Augen schauen, als alles vorbei war. Im Untergang gab es kein gemeinsames Thema mehr. Und so wie die Tische vor den Restaurants, so lehrten sich auch die Fanmeilen und anderen Public-Viewing-Locations in kürzester Zeit. Wortlos und stur geradeaus schauend radelten in Hamburg Tausende in Viererreihen nach Hause. Eine geradezu unheimliche Schweigeparade nach all dem Getöse.



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