Mittwoch, 6. April 2011

Mehrheit und Ausnahmezustand

2006

Der Wille zum "unverkrampften Nationalstolz"
Massenpsychologie des "Patriotismus" und dessen diskursive Voraussetzungen.

Victor Klemperer hat es anschaulich beschrieben: Die Beseitigung bestimmter gesellschaftlicher Mindeststandards erfordert die TAT der Massen: Den kollektiven Schrei, das Fahnenschwingen, die Abzeichen. Die Mehrheit benötigt für den Tabubruch, den sie durchsetzen will, den Ausnahmezustand. Wer abseits bleibt, macht sich verdächtig. Nur wer seine abweichende Meinung versteckt, entkommt der gut gelaunten Raserei, die jederzeit umschlagen kann. Am Ende des Ausnahmezustandes ist alles anders. Die neuen Selbstverständlichkeiten sind jetzt so selbstverständlich, dass man sich schon bald nicht mehr daran erinnern kann, dass es einmal anders war. Allerdings fehlt dann bei der Wiederholung (EM 2008, WM 2010) auch der Mehrgenuss, der mit dem Tabubruch verbunden war.     

Wer die Nationalfahne schwenkt und den Sieg der deutschen Mannschaft feiert und dabei “WIR haben gewonnen” grölt, obwohl er/sie dem Spiel höchstens zugeschaut hat, also mit dem Sieg nichts zu tun hatte, der/die zeigt damit den eigenen WILLEN zum Konformismus. Und man weiß durchaus, dass jene „Unschönheiten“, gegen die sich abgeklärte Deutsche im nüchternen Zustand gerne abgrenzen - Antisemitismus, Rassismus, Homophobie – etc. - ihren Ursprung in der nationalen Identifikation haben, einer Identifikation, zu der man sich ausdrücklich TROTZ des Nationalsozialismus bekennt. In diesem demonstrativen TROTZDEM steckt der Wille zur Relativierung.


Die Geschichtsserien von Guido Knopp (nach dem Muster: Nachdem wir unsere Schuld eingestanden haben, thematisieren wir jetzt die Verbrechen der anderen - zum Beispiel in Dresden), die Bücher von Günter Grass (z.B. über den Untergang des Flüchtlingsdampfers "Wilhelm Gustloff") und Jörg Friedrich (über den "Feuersturm"), in denen die Täter & Mitläufer als Opfer dargestellt werden, die Kampagnen für geschichtsrevisionistisches "Zentrum gegen Vertreibungen", außerdem Kampagnen wie "Du bist Deutschland" oder "Initiative Deutschland", propagierten schon vor der Weltmeisterschaft eine neue "unbefangene" Vaterlandsliebe. Die Medien (Bertelsmann vorweg) mischten dabei kräftig mit. Die "Du bist Deutschland"-Spots liefen auf allen TV-Sendern. Zudem fanden in den TV-Anstalten und Zeitungen Diskussionen über die Notwendigkeit eines „neuen Patriotismus“ statt. So debattierten bei Beckmann noch zwei Wochen vor Beginn der WM Florian Langenscheidt, Til Schwaiger, Gregor Gysi und Matthias Matussek über Gründe, „auf Deutschland stolz“ zu sein. Und der "Berliner Kurier" verteilte als Beigabe bereits vor der WM deutsche Fähnchen.

Der tiefe Wunsch nach Nationalhymnen und Nationalfahnen war jedoch schon lange vorhanden. Er musste von den politischen Eliten mit Rücksicht auf Deutschlands internationale Stellung stets gesteuert werden. Was "im Volk" gedacht wurde und was offiziell gesagt werden konnte, war nie das gleiche. Insofern ist auch der neue Massenstolz auf Deutschland von politischer Seite genau kalkuliert und er wird dementsprechend auch kontrolliert. Was auffällt ist diesmal allerdings die rückhaltlose Begeisterung der Eliten selbst, auch die der Mittelschichten, besonders auch die der rotgrünen Milieus in den Metropolen.

Alle wissen, dass das, was bei dieser WM in dieser Hinsicht geschah, noch vor ganz kurzer Zeit nicht einmal in der Vorstellung der Akteure möglich gewesen wäre. Der Tabubruch war und ist allen bewusst. Und die Welt ist seither eine andere. Wer gestern noch "gehemmt" war, weiß heute schon nicht mehr, warum.
Die Aktion von Millionen schafft neue Selbstverständlichkeiten. Wer dann noch dagegen ist oder daran erinnert, was gestern noch Standard war, schließt sich selbst aus der neuen Volksgemeinschaft aus.



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